(1)Ralf Zoll wurde 1939 in Darmstadt als Sohn des Pianisten, Komponisten und Musikpädagogen Paul Zoll und seiner Ehefrau Erna, geb. Grün geboren. Nach dem Abitur begann er 1959 in Frankfurt ein Studium der Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft und der Volkswirtschaftslehre bei so bekannten Wissenschaftlern wie Adorno, Horkheimer, L. von Friedeburg oder C. Schmidt. Das Studium schloss er im Winter 1963/64 mit dem Diplom in Soziologie ab. Schon während des Studiums verfasste er Manuskripte für das Kulturprogramm des Hessischen Rundfunks und von Radio Bremen, das auch Arbeiten seiner Lehrer wie Horkheimer oder Adorno sendete. Projektleiter in der Markt- und Motivforschung hieß 1964 die erste berufliche Position. Bereits 1965 wechselte er wieder an die Hochschule und verwaltete bis Ende 1967 am Seminar für politische Bildung der Johann Wolfgang Goethe-Universität eine wissenschaftliche Assistentenstelle. 1968 etablierte er mit Thomas Ellwein ein Forschungsinstitut am Seminar, das er bis 1970 auch leitete. In dieser Zeit begann eine enge wissenschaftliche Beziehung und Freundschaft, die sich u.a. in der Gründung der „Forschungsgruppe Ellwein/Zoll für Systemanalyse und politische Planung“ manifestierte. Die Forschungsgruppe hat vor allem bis Anfang der 80er Jahre eine Vielzahl grundlegender Studien erarbeitet. 1971 schließt Zoll das Promotionsverfahren ab, das sich durch den Tod von Adorno erheblich verzögert hatte.
1970 wechselt er mit Ellwein nach München, um im Rahmen des Neuaufbaus des „wissenschaftlichen Instituts für Erziehung und Bildung in den Streitkräften“ die Bildungsreform in der Bundeswehr vorzubereiten. Als stellvertretender Direktor des Instituts war er vor allem zuständig für die inhaltliche Konzeption des Kernstücks der Reform, der Gründung von zwei Bundeswehruniversitäten. 1973 ernannte ihn der Bundespräsident zum Direktor und Professor. Mit Abschluss der Bildungsreform kam es zu einer Reorganisation des Forschungsprogramms in der Bundeswehr und auf Vorschlag von Zoll zur Gründung des „Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr“ (SOWI), mit dessen Aufbau und Leitung er 1974 betraut wurde. Das Institut widmete sich neben der Grundlagenforschung vor allem der Analyse konkreter Problemlagen des Militärs als Organisation sowie des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft auch im internationalen Kontext. Das Institut entwickelte sich nach Aussage von Morris Janowitz, dem „Papst“ der Militärsoziologie, zur international wichtigsten Forschungseinrichtung seiner Art. Zoll erhielt 1981 für seinen Beitrag zur Entwicklung eines national wie international erheblich vernachlässigten Forschungsfeldes als bis dato jüngster Wissenschaftler das Bundesverdienstkreuz.
1983 „lockte“ ihn die erste Professur für Angewandte Soziologie in Deutschland an das Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg. Dort führte er seine Forschungen zu politischen Einstellungen und politischem Verhalten fort, widmete sich seinen früheren didaktischen und methodischen Interessen und bündelte die Erfahrungen der vergangenen Jahre im Aufbau des ersten Studienangebotes für Friedens-und Konfliktforschung an einer deutschen Universität auf der Basis eines interdisziplinären, konflikttheoretisch orientierten Ansatzes(1996).
(2)Ein inhaltlicher Schwerpunkt, der sich stets erhalten hat, betrifft die Forschungen zu politischem Verhalten im weiteren Sinne. Ausgangspunkt bildete das Projekt „Politisches Verhalten“ (Vgl. im angefügten Schriftenverzeichnis RH 2), 1967 mit Ellwein konzipiert, das zu den Klassikern der empirischen Sozialforschung in Deutschland zählt. Es umfasst neben der Rezeption und kritischen Weiterführung der amerikanischen Partizipations-, Anomie- und Alienation- sowie Gemeindeforschung (Bände 1-3 Der Reihe) eine quantitative Inhaltsanalyse der Schriften zur politischen Pädagogik von 1948 -1968(Band 11). Die Aufarbeitung des Standes der Massenkommunikationsforschung eröffnete eine jahrelange kontroverse Diskussion sowohl im wissenschaftlichen Bereich wie in den z.B. wegen ihrer Parteienabhängigkeit und fehlender öffentlicher Rechnungslegung ihrer Finanzen kritisierten Rundfunk- und Fernsehanstalten(Band 4). Auch die erste vollständige Erfassung und Analyse von Vereinen und Verbänden in einer deutschen Großstadt hinsichtlich Organisationszielen und –strukturen wurde im Rahmen des Projektes erstellt(Band 5). Besonders einflussreich erwies sich die Untersuchung der Gemeinde Wertheim in der Weiterentwicklung der amerikanischen Community-Power-Forschung(Bände 8-10). Damit erfüllte sich Zoll einen Traum aus der Studienzeit, der während der Beschäftigung mit seiner Diplomarbeit „Theorie und Methode der Gemeindesoziologie“ entstanden war. Wegen eines umfassenden Ansatzes zur Analyse kommunaler Einflussstrukturen entfalteten die Ergebnisse auch nicht geahnte Breitenwirkung etwa für den Bereich lokaler Medien einschließlich Aus- und Weiterbildung von Journalisten. Das ZDF brachte eine zweiteilige Sendung zu kommunalen Machtstrukturen auf der Grundlage der Wertheimstudie. Im Rahmen des Projektes wurde auch das bis dato umfangreichste Instrumentarium zur Erfassung von sozialen und politischen Einstellungen und Verhaltensweisen entwickelt: ein an Thurstone orientiertes Persönlichkeitsinventar(mit sieben Subskalen), sieben Einstellungsskalen und sechs Verhaltensindizes(Band 6; vgl. auch das ZUMA Skalenhandbuch). Diese Instrumentarium, in Teilen in einer Vorform schon in der Wertheimstudie eingesetzt, stellte die Grundlage für eine Mehrzahl von repräsentativen Studien über die bundesrepublikanische Bevölkerung dar(vgl. im Schriftenverzeichnis B 13, 18 oder 24). Im Projekt „Politisches Verhalten kooperierte Zoll neben Ellwein auch enger mit Arthur Fischer und Ekkehard Lippert. Ab Ende der 70er Jahre folgte eine Zusammenarbeit vor allem mit Heinz-Ulrich Kohr und Hans-Georg Räder(vgl. A 20, 23 oder 36).
Ein zweiter durchgängiger Arbeitsbereich bildete praktisch wie theoretisch der Bildungsbereich. Bereits 1965 veröffentlichte Zoll eine Einführung in die Kleingruppenforschung(vgl. B 1 und 21), die eine neue Form der Arbeitsbücher für einen integrierten Gemeinschaftskundeunterricht konzipierte. Das Buch erlebte sieben Auflagen und wurde 150 000 mal verkauft. Mit ähnlicher Konzeption entstand zur gleichen Zeit die mit Manfred Bayer herausgegebene Reihe „Materialien zur Gemeinschaftskunde“(vgl. RH 1). Auf die Analyse der Schriften zur politischen Pädagogik wurde bereits verwiesen. Es folgten einige Jahre als Mitherausgeber der Zeitschrift „Materialien zur Politischen Bildung“(vgl. RH 4) und die Arbeit an der Bildungsreform in der Bundeswehr mit der Konzeption neuer Studiengänge. Singulär sind in diesem Zusammenhang die Veröffentlichungen der Curricula für die Fächer „Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften“ sowie „Vermessungswesen“ (vgl. B 12 und 16). Bereits hier versuchte Zoll, über einen tätigkeitsfeldbezogenen Ansatz die verkrusteten Grenzen traditioneller Fachverständnisse zu überwinden. In die 70er Jahre fallen auch die ersten Evaluationsforschungen für Bildungsprogramme bzw. einzelne Kurse (vgl. A 7 und B 15), die in der Marburger Zeit fortgeführt und erweitert wurden.
Mit dem Studienangebot für Friedens- und Konfliktforschung manifestiert sich ein drittes durchgängiges Interesse von Zoll, das mit Arbeiten zum zivil-militärischen Verhältnis und zu internationalen Konfliktlagen Ende der 60er Jahre begonnen hatte. Dabei ging es einmal darum, aus der Enge der organisationsbefangenen Betrachtung mit der Konzentration auf Gegenstände wie „cohesion“, „morale“ oder „military family“, welche die Militärsoziologie damals auszeichnete, heraus zu gelangen und sich auch von der vordergründigen Legitimationsforschung(Akzeptanz von Militär und –strategien in der Bevölkerung) zu lösen. Zu diesem Zweck war es notwendig, das Forschungsfeld generell stärker theoretisch zu fundieren, etwa durch Arbeiten zur Legitimität militärischer Organisationen in Demokratien oder durch eine Erweiterung der militärsoziologischen Perspektive durch eine Soziologie des Krieges/Friedens(vgl. A 24, 27, 34 und B 22, 23). Weiterhin galt es, das gewaltige Desinteresse der Sozialwissenschaften am Militär in Forschung und Lehre zu überwinden (vgl. A 9 und B 19, 22). Ein Hindernis war hier sicher die Dominanz der US-amerikanischen Forscher in den entsprechenden Gremien sowie die von ihnen vertretenen pragmatisch organisationsfixierten Ansätze. Zolls Engagement in den einschlägigen internationalen Einrichtungen wie dem Research Committee No 1 der International Sociological Association als Vizepräsident, als European Representative des Inter-University Seminar on Armed Forces and Society(IUS) oder als Mitherausgeber der Zeitschrift Armed Forces and Society (vgl. RH 5) war wohl, vor allem nach dem Tod von Morris Janowitz, nur sehr begrenzt erfolgreich. Aus diesem Grund bemühte er sich, 1986 schließlich mit Erfolg, um die Gründung einer Europäischen Vereinigung. Als Gründungspräsident von ERGOMAS (European Research Group on Military and Society) etablierte er eine Vereinigung von Wissenschaftlern neuen Stils, die sich um Forschungsprojektgruppen organisiert. Im Rahmen des SOWI konnte Zoll erfolgreich belegen, wie auch sogenannte Auftragsforschung die kritische Distanz zum Auftraggeber und zum Forschungsgegenstand zu halten vermag. In die Zeit als Direktor des SOWI fallen auch die meisten seiner Beteiligungen an international vergleichenden Projekten(vgl. RH 4, B 25, A 28,30).
Mit seinem Freund und Partner Thomas Ellwein teilte Zoll die Auffassung, dass Wissenschaft auch politisch praktisch zu sein habe. Ihren Niederschlag fand diese Überzeugung in beratender Forschung z.B. für die Kommission wirtschaftlicher und sozialer Wandel, zur Reform des öffentlichen Dienstes, zur Bildungsreform in der Bundeswehr, für die Ministerien für Arbeit und Soziales, für Inneres, Äußeres, Verteidigung, Familie/Jugend/Gesundheit, Forschung und Technologie, Bildung und Forschung oder für so unterschiedliche Verbände wie den Deutschen Beamtenbund, den Deutschen Bauernverband, den Deutschen Brauerbund oder die katholische Kirche(Caritas).
Wissenschaftlich ist Zoll ein Wanderer zwischen den Fachwelten der Soziologie, Politikwissenschaft und Sozialpsychologie mit starken interdisziplinären Interessen hin zu weit entfernten Fächern, was sich auch im Namen der Vereinigungen niederschlägt, in denen er Mitglied ist oder war: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft, Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen, International Society of Political Psychology, IUS, ERGOMAS, International Sociological Association, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für Friedens- und Abrüstungsforschung, Arbeitskreis Militär und Sozialwissenschaften, Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung.
(Entwicklung ab 2000)
(3) 2001 gelang es Zoll, nach jahrelangen Vorarbeiten, das Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität in Marburg zu etablieren, eine fachbereichsübergreifende Einrichtung mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus sechzehn verschiedenen Disziplinen. Bemerkenswert ist dabei zum einen, dass Vertreter von Fächern kooperieren, die sich selten zu gemeinsamen Arbeiten zusammenfinden wie Medizin, Geographie, Jura, Informatik, Physik, Religionswissenschaften, politische Ökonomie oder Medienwissenschaften neben den erwarteten Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaften Psychologie oder Geschichtswissenschaften. Zum anderen ist das Zentrum neben der interdisziplinären Forschung auch zuständig für die interdisziplinäre Lehre im Fach Friedens-und Konfliktforschung. Zoll leitete das Zentrum bis zu seiner Emeritierung 2004. In dieser Zeit wurde der Nebenfachstudiengang weiterentwickelt und vor allem ein Masterstudiengang vorbereitet, der eine großzügige Förderung durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung erfuhr und bei seiner Akkreditierung vor allem wegen seiner inhaltlichen und didaktischen Struktur besonderes Lob erlangte. An der Entwicklung waren besonders Peter Imbusch und Thorsten Bonacker beteiligt. Auch das Wissenschaftsministerium des Landes Hessen hat durch Förderungen dazu beigetragen, dass Zentrum wie Studiengänge nachhaltig aufgestellt sind. Von den Forschungsvorhaben des Zentrums kann das zweiteilige große Projekt zur Präimplantationsdiagnostik hervorgehoben werden, bei dem Zoll vor allem mit Tanja Krones und Gerd Richter zusammenarbeitete. Wichtigstes anwendungsbezogenes Projekt war die Entwicklung eines Workshopmodells zur Vermittlung konfliktärer Interessen auf der Einstellungsebene. Das Modell wurde anhand der griechisch-türkischen Beziehungen vor Ort(Isnic und Nea Kavali) erprobt und basiert auf Rollenspielen.(Förderung durch die Außenministerien von Griechenland und Deutschland und das Ministerium für Bildung und Technologie).(Vgl. B 46)
2004 schloss Zoll noch ein Vorhaben ab, dass ihn fast dreißig Jahre beschäftigt hatte, aber erst in den letzten acht Jahren intensiv verfolgt werden konnte, eine Einführung in das sozialwissenschaftliche Denken anhand schöngeistiger Texte. Das zweibändige Werk versammelt Textpassagen von über hundert Autoren aus fast dreißig Ländern, darunter viele Nobelpreisträger für Literatur.(Vgl. B 48 + 49)
Seit der Emeritierung bis 2012 leitete Zoll in seinem Wohnort Gemünden den zivilgesellschaftlichen Arbeitskreis Stadtentwicklung, der neben der Präsentation eines Entwicklungskonzeptes eine beachtliche Summe an Fördergeldern einwerben konnte. Zu den Vorhaben gehört u.a. ein Erlebnis- und Kunstpfad, dessen Gestaltung wesentlich von Zoll beeinflusst wurde und auch weiterhin beeinflusst wird. Zum Kunstpfad hat er auch eigene Skulpturen beigetragen. Die künstlerischen Neigungen nehmen immer größeren Raum in seinem Leben ein. 2009 bereitete Zoll eine Wanderausstellung von eigenen Fotografien vor, die die Entwicklung eines verlassenen Dorfes in Griechenland dokumentieren. Die Ausstellung wurde bislang vor allem in Nordgriechenland gezeigt. Seine langjährigen Beziehungen zu Griechenland haben auch in einer 2016, und in erweiterter Form 2018, erschienenen Novelle „Manolis-Eine griechische Tragödie“ ihren Niederschlag gefunden. Die Novelle erzählt nicht nur die Geschichte einer persönlichen Tragödie, sie schildert zugleich Ursachen für die Krise eines zerrissenen, arg gebeutelten Landes.